China unter den Mandschu \(1644 bis 1843\): Von der Großmacht zum Spielball der europäischen Mächte

China unter den Mandschu \(1644 bis 1843\): Von der Großmacht zum Spielball der europäischen Mächte
China unter den Mandschu (1644 bis 1843): Von der Großmacht zum Spielball der europäischen Mächte
 
Der Aufstieg der Mandschu und die Expansion des chinesischen Reiches
 
Ein Draufgänger namens Nurhachi
 
Der Aufstieg der Mandschu, die schon einmal, zwischen 1115 und 1234, als Jindynastie ganz Nordchina bis zum Huaifluss beherrscht hatten — sie hießen damals noch Dschurdschen —, zur asiatischen Großmacht folgte einem bei den Nordvölkern »eingespielten« Drehbuch: Ein junger, unzufriedener Draufgänger namens Nurhachi aus einer renommierten, aber politisch kaltgestellten Sippe sammelt eine Schar Gleichgesinnter, ohne Ansehen der Stammeszugehörigkeit, um sich und macht sich daran, der herrschenden Aristokratie die Macht zu entreißen. Zwischen 1599 und 1613 gelang es Nurhachi, fast alle Stämme der Mandschu zwischen dem Liaofluss im Süden und dem Amur im Norden unter seinem Befehl zu vereinen. Er begnügte sich aber nicht damit, nur die alte Aristokratie zu verdrängen; er dachte weiter und zerschlug gleichzeitig auch — vielleicht unter dem Einfluss seiner chinesischen Berater, Überläufern der Ming — die alte Stammesgesellschaft. Die Stämme gruppierte er, mit Ausnahme seiner eigenen Familie, ab 1601 in vier, später acht »Banner« (gusai) um, Einheiten, die nicht allein für die militärischen Belange, sondern auch für die zivile Verwaltung der ihnen zugehörenden Familien zuständig waren.
 
1616 fühlte er sich sogar stark genug, China herauszufordern, und rief sich selbst zum »vom Himmel ernannten Kaiser« aus; seine Dynastie nannte er in Erinnerung an die ruhmreiche Vergangenheit seines Volkes Jin. In den anschließenden Kämpfen mit den Ming dehnte er seine Herrschaft nach und nach auf das von den Chinesen besiedelte Gebiet östlich des Liao aus. Aber erst seinem Sohn und Nachfolger Abahai, der auch Korea in die Botmäßigkeit zwang und die Ostmongolen besiegte, gelang es ein Jahr vor seinem Tode 1643, die letzten Festungen der Ming vor der Großen Mauer zu überwinden. Zuvor hatte Abahai, um die Chinesen für seine Sache erwärmen zu können, den für diese mit unangenehmen Erinnerungen verknüpften Namen seines Dschurdschenvolkes in Mandschu geändert und den ebenfalls anrüchigen Dynastienamen Jin 1636 in Da Qing (Große Reinheit), meist abgekürzt Qing genannt.
 
Den letzten Schritt, den Großangriff über die Mauer hinweg nach China, tat dann 1644 sein Bruder Dorgon, der für den minderjährigen Thronfolger Fulin die Regierungsgeschäfte führte. Dieser Vorstoß war ihm allerdings nur möglich, weil ein furchtbarer Bauernaufstand, der seit 1621 ganz Nordchina verheerte, die Mingdynastie lähmte. Als am 25. April 1644 die Aufständischen gar in Peking eindrangen und der Kaiser sich im Palast erhängte, brach die angeschlagene Dynastie vollends zusammen. Der Brigadegeneral Wu Sangui, Oberkommandierender von Liaodong und des Mauerabschnitts nördlich von Peking, der mit seinen Entsatztruppen zu spät gekommen war, handelte daraufhin so wie schon manch anderer Offizier und Beamter vor ihm: Er schloss sich den Mandschu an, in denen er das kleinere Übel sah, und öffnete Dorgon die Tore der Großen Mauer. Gemeinsam gelang es ihnen, die Rebellen in die Flucht zu schlagen, und am 5. Juni zogen die Mandschu als neue Herrscher in Peking ein. Am 3. Oktober wurde Abahais Sohn Fulin unter dem Regierungsnamen Shunzhi als neuer Herrscher Chinas inthronisiert.
 
Der Besitz Pekings bedeutete noch nicht die Herrschaft über China. Die wirtschaftlich wichtigere Reichshälfte südlich des Jangtsekiang blieb der alten Dynastie treu und huldigte verschiedenen dorthin geflüchteten Angehörigen des Kaiserhauses der Ming. Nur mithilfe ihm loyal ergebener chinesischer Generäle, unter ihnen auch Wu Sangui, und ihrer Truppen konnte der Hof der Mandschu die Anhänger der Mingdynastie bis 1662 besiegen. Lediglich Zheng Chenggong — besser bekannt unter seinem europäisierten Namen Koxinga — gelang es, sich aus seiner bisherigen Basis in Fukien nach Formosa, dem heutigen Taiwan, zurückzuziehen, nachdem er dort die Holländer vertrieben hatte. Erst 1683 konnten die Mandschu die Insel ihrem Machtbereich einverleiben.
 
Und auch jetzt war die Herrschaft der Mandschu über den Süden Chinas eher eine nominelle. Die wahren Herrscher waren hier drei Generäle — allesamt ehemalige Truppenkommandeure der Ming in Liaodong — die die Ming-Loyalisten, also die Anhänger der alten Dynastie, für die Qing vernichtet hatten. Sie schalteten und walteten seitdem in den westlichen und südlichen Provinzen als faktisch unabhängige Vizekönige und befehligten zusammen eine Militärmacht, die derjenigen des Hofes in Peking ebenbürtig war. Erst der junge Kaiser Kangxi konnte sie in ihre Schranken weisen. Als er 1673 ihre Versetzung in den Norden befahl, rebellierten sie und marschierten auf Peking zu. Wieder wurde die Dynastie mithilfe loyaler chinesischer Truppen gerettet, die Rebellion aber erst 1681 endgültig niedergeschlagen.
 
Langlebige Herrscher
 
Kangxi, der 1661 den Thron bestieg, war der erste von drei aufeinander folgenden Herrschern, die dank ihrer Tüchtigkeit, ihres autoritären Führungsstils und meist langer Regierungszeiten — Kangxi 60, Qianlong 59 Jahre — dem chinesischen Reich nicht nur die innere Stabilität schenkten, sondern es auch zur asiatischen Großmacht machten. Er wies die aufsteigende und nach Sibirien und in den Pazifik vordringende Großmacht Russland in die Schranken und besiegte 1696 die westlichen Mongolen — auch als Dsungaren und später Oloten bekannt —, die eine ständige Bedrohung der Nordgrenzen des Reiches darstellten. Der Sieg garantierte die Herrschaft der Qing über die äußere Mongolei und das östliche Turkestan. Kangxis Nachfolger, sein vierter Sohn Yongzheng, der bei der Machtübernahme 1722 bereits 45 Jahre alt war, regierte das Reich 13 Jahre lang mit noch strengerer Hand und führte die Außenpolitik seines Vaters erfolgreich fort. Auch er achtete auf gute Beziehungen zu Russland, und auch ihm gelang 1732 ein bedeutender Sieg über die keineswegs schon ganz befriedeten Westmongolen.
 
Ihren Höhepunkt erreichte diese von Sicherheitserwägungen getriebene Expansionspolitik unter Kaiser Qianlong. In der Zeit von 1755 bis 1759 wurden die Westmongolen endgültig vernichtet, die Region um den Balchaschsee sowie Turkestan, das 1768 den heutigen Namen Sinkiang (Xinjiang, »Neues Territorium«) erhielt, dem Qingreich eingegliedert. Ebenso wurde Tibet, das lange zwischen den Westmongolen und China umkämpft war, endgültig 1751, wenn auch nur als Protektorat, Teil des Reiches. Abgerundet wurde diese Eroberungspolitik mit den Feldzügen gegen Birma (1766—70), Annam/Vietnam (1788—89) und Nepal (1791), die militärisch zwar von zweifelhaftem Erfolg waren, immerhin aber diese Länder zwangen, die chinesische Oberhoheit anzuerkennen. China war nun wie selten zuvor ein Vielvölkerstaat, ein Umstand, dem der Hof dadurch Rechnung trug, dass er neben dem Chinesischen und Mandschurischen auch das Mongolische, Tibetische und Uigurische in den Rang offizieller Verwaltungssprachen erhob. Auf die Eroberungen Qianlongs gehen die territorialen Ansprüche des modernen China zurück, aber auch die Minderheitenprobleme, denen sich das Land seit den 1950er-Jahren in Tibet und seit 1997 auch in Sinkiang — hier mit den Uiguren — gegenübersieht.
 
 Die Verwaltung des Qingreiches
 
Als Eroberer sicherten sich die Mandschu eine privilegierte Position. Nicht mehr in den traditionellen Stämmen, sondern in den acht Bannern organisiert, lebten sie getrennt von den Chinesen in eigenen Garnisonen, von denen die meisten um Peking herum stationiert waren. So gab es auch in Peking eine »Tatarenstadt« nördlich des Palastes und eine »Chinesenstadt« im Süden. Im Umkreis von etwa 400 km waren alle Ländereien zugunsten der Versorgung der Bannerleute mit Ackerland konfisziert worden. Die restlichen Garnisonen waren an anderen neuralgischen Punkten des Reiches neben den regulären chinesischen Provinzialarmeen, den nach ihren Fahnen benannten »Grünen Bataillonen«, als Eingreiftruppen stationiert.
 
Um die Eigenständigkeit und die Vorherrschaft des Mandschuvolkes zu bewahren, das gerade einmal zwei Prozent der Gesamtbevölkerung des chinesischen Reiches ausmachte, waren Heiraten mit den Chinesen strikt untersagt; dem gleichen Zweck diente auch eine Erziehung in den traditionellen Werten der Mandschuren und das Verbot der Ansiedlung von Chinesen in den drei Heimatprovinzen des Mandschuvolkes. Die männlichen Chinesen dagegen mussten den Vorderkopf scheren und am Hinterkopf einen Zopf tragen, ganz nach der mandschurischen Sitte. Aber keine dieser Maßnahmen konnte auf Dauer die schleichende Sinisierung des Eroberervolkes, das heißt die Prägung durch die chinesische Kultur, verhindern. Die Mandschu konnten sich dennoch an der Macht halten, weil es ihnen gelang, die chinesische Elite in die Machtstrukturen des Reiches einzubinden, ohne dass sie ihre eigenen Privilegien aufgeben mussten.
 
Paritätische Amtsführung selbst im Staatsrat
 
Alle wichtigen hohen Ämter der Reichsverwaltung, die die Eroberer ohne wesentliche Änderungen von der Vorgängerdynastie übernommen hatten, waren paritätisch mit Mandschu und Chinesen besetzt, auch die politisch einflussreichsten. Das bedeutendste war lange Zeit das »Innere Kabinett« (neige), eine Art Küchenkabinett von vier Großsekretären und zwei beigeordneten Sekretären. 1729 ersetzte Kaiser Yongzheng dieses Amt durch den Staatsrat (junji chu); das »neige« existierte weiter, erfüllte seither aber nur noch die Aufgabe einer Kanzlei oder eines Archivs. Die fünf bis sechs Staatsräte und die ihnen zuarbeitenden Sekretäre (bis zu 32) — allesamt paritätisch mit Chinesen und Mandschuren besetzt — wohnten im Inneren Palast, damit sie dem Kaiser jederzeit zur Verfügung standen und ihn in wichtigen politischen und militärischen Fragen, in Personalfragen und bei Ämterbesetzungen beraten konnten. Im Übrigen hielt der Kaiser alle Fäden der Regierung in seiner Hand. Nicht nur die ihm direkt unterstehenden Kontrollinstanzen, die Zensoren, sondern auch alle Zentral-, Provinzial- und Lokalbehörden durften ihm unter Umgehung des Instanzenweges Bericht erstatten; auf diese Weise konnte er die verschiedenen Ebenen des Verwaltungsapparates gegeneinander ausspielen und als Einziger den Durchblick bewahren. Die Folge war eine enorme Stärkung seiner Position gegenüber der Beamtenschaft; aber auch ein Anschwellen des für das chinesische Verwaltungssystem so typischen »Papierkriegs«.
 
Provinzen, Präfekturen, Kreise
 
Die paritätische Besetzung der Ämter mit Mandschu und Chinesen setzte sich auch in der Provinzialverwaltung fort. War der Generalgouverneur, der den Rang eines Vizekönigs besaß und dem in der Regel zwei, manchmal auch drei der 18 Provinzen unterstanden, ein Mandschu, so waren die ihm unterstehenden Provinzgouverneure Chinesen und umgekehrt, wobei chinesische Generalgouverneure in der Regel aus den chinesischen Bannerorganisationen kamen. Dagegen war die darunter liegende Lokalverwaltung mit 154 Präfekturen und 1287 Kreisen fast ausschließlich die Domäne der Chinesen. Die dort tätigen Beamten durften nie in ihrer Heimatprovinz tätig sein und wurden spätestens nach drei Jahren versetzt.
 
Ein Kreisvorsteher war für die Steuereintreibung, die Rechtsverwaltung und das Polizeiwesen eines Territoriums verantwortlich, das mehrere Städte umfasste und von durchschnittlich 200000 Menschen bewohnt wurde. Oft genug war er dabei ganz allein, unterstützt nur noch von seinen persönlichen Sekretären — Gelehrte wie er, aber ohne Amt —, die er aus eigener Tasche bezahlte. Diese arbeiteten ihm als eigentliche Verwaltungsexperten zu und beaufsichtigten das oft nach Tausenden zählende niedere Verwaltungspersonal der Kreisbehörde. Dieses Personal rekrutierte sich aus schreibkundigen Angestellten und »Läufern«, die Botendienste versahen, gleichzeitig aber auch die Funktion einer Polizei ausübten. Angestellte und Läufer finanzierten sich selbst, indem sie für ihre Dienste vom Volk mehr oder weniger legale Gebühren erhoben. Dass hier der Bestechung Tor und Tür geöffnet waren, versteht sich von selbst.
 
Der Kreisvorsteher residierte wie ein kleiner Kaiser in seinem von der Öffentlichkeit abgeschirmten Amtssitz, dem »yamen«. Dort entschied er Tag für Tag alle öffentlichen Angelegenheiten des Kreises. Wer sein Recht suchte, musste die oft beschwerliche und teure Reise in die Kreisstadt antreten, da es außerhalb des »yamen« keine weitere Entscheidungsinstanz gab. In den Städten und Dörfern wurden die Anordnungen des »yamen« von »ehrenamtlichen« Amtsträgern umgesetzt, zwangsverpflichteten Männern, zumeist solchen mit Vermögen, die dem »yamen« die aktuellen Bevölkerungs- und Katasterdaten liefern mussten und auch als eine Art Ordnungshüter für die Steuereintreibung und die Überwachung der Bevölkerung zu sorgen hatten. Sämtliche Haushalte eines Kreises waren zu diesem Zweck in Zehner-, Hundert- und Tausendschaften zusammengefasst, die alle natürlich gewachsenen Strukturen ignorierten und denen jeweils ein ehrenamtlicher Volksvertreter vorstand. Wer konnte, drückte sich vor dieser Ehre, da sie den Betroffenen nicht nur hohe Kosten aufbürdete, sondern auch die Last einer Verantwortung, für die sie unter Umständen mit Besitz und Leben geradestehen mussten.
 
Die Beamtenprüfungen
 
Im ganzen Riesenreich, das auf seinem Höhepunkt über 400 Millionen Menschen zählte, gab es nur 20000 zivile und 7000 militärische Beamtenstellen aller Stufengrade, kaum mehr als zu den Zeiten, da in China nur 100 Millionen Einwohner lebten. Um diese Stellen bewarben sich theoretisch eine Million Männer: jene, die eine der drei Examina — die Präfekturprüfung, Provinz- oder Palastprüfung — bestanden hatten, die zur Bewerbung berechtigten. Sie zählten damit zum Stande der Literatenbeamten, dem vornehmsten Stand der vormodernen chinesischen Gesellschaft, der im Westen in Anlehnung an den englischen Landadel »Gentry« genannt wurde. Die Prüfungen, die jetzt wie nie zuvor eine Einbahnstraße zu den Amtspfründen waren, fanden in der Regel alle drei Jahre statt. Ihr wichtigster Teil bestand in der Abfassung literarischer und philosophischer Traktate, bei der eine möglichst umfassende Kenntnis der klassischen konfuzianischen Schriften und ein blendender Stil zu Tage treten sollten.
 
Eine Vorauswahl zu den klassischen Examina stellte die Kreisprüfung dar. Von den zwei Millionen zur Kreisprüfung angetretenen Kandidaten, die ihre Erziehung und Vorbereitung auf die Prüfungen Privatlehrern, Klanschulen oder Provinzakademien verdankten, blieben nach der Palastprüfung, 300 »avancierte Gelehrte« (jinshi) übrig, die dann insgesamt 160 Tage in schriftlichen Prüfungen gesessen hatten. Die Chancen, den Titel eines »jinshi« zu erreichen, standen also für einen Kandidaten eins zu sechstausend. Nur die »jinshi« hatten einen automatischen Anspruch auf eine Amtsstelle, vom Kreisvorsteher aufwärts, je nach Examensergebnis. Auch 40 Prozent der erfolgreichen Kandidaten der Provinzprüfungen konnten sich noch Hoffnung auf einen niederen Beamtenposten machen; die »xiucai«, die Absolventen der Präfekturprüfungen, aber nur in Ausnahmefällen: Von ihnen schafften es gerade drei Prozent.
 
 Gesellschaft und Wirtschaft
 
Die Mühe lohnte sich wenigstens für ein Amt in der Provinzial- und Lokalverwaltung. Zwar waren die Grundgehälter lächerlich niedrig, doch mit den regulären Aufschlägen, die mehr als das Zehnfache betragen konnten, den halb legalen Gebühren und sonstigen Zuwendungen, soll es ein Kreispräfekt, dem jährlich eigentlich nur 45 Silberunzen als Gehalt zustanden, auf 30000 bis 40000 Unzen gebracht haben, ein Generalgouverneur gar auf 250000. Doch Geld war nicht alles; fast noch mehr zählte das Prestige, Angehöriger eines Standes zu sein, zu dem nicht einmal zwei Prozent der Familien des Reiches gehörten und der über eine Reihe rechtlicher und wirtschaftlicher Privilegien verfügte, die ihn zu einem Quasi-Adel machten. So wurde das Vergehen eines gewöhnlichen Bürgers gegen einen Angehörigen dieses Standes besonders streng bestraft, während dieser die demütigende Prügelstrafe durch eine Geldstrafe kompensieren konnte; und ein erfolgreicher Examenskandidat war von der lästigen Arbeitsdienstpflicht befreit.
 
Die Gentry
 
Allerdings war die Gentry ein nach unten offener Stand, denn gut ein Drittel aller erfolgreichen Absolventen eines Prüfungsjahrgangs stammten aus Familien, die seit mindestens drei Generationen keinen Literatenbeamten hervorgebracht hatten. Vom sozialen Abstieg waren besonders die »xiucai« bedroht; sie mussten sich weiterhin den alle drei Jahre stattfindenden Präfekturprüfungen stellen und wurden aus den Listen gestrichen, wenn sie dreimal hintereinander versagten.
 
Dieser »Landadel« war untereinander durch verwandtschaftliche und landsmannschaftliche Bande verbunden. Über diese engeren lokalen Grenzen hinaus war zwischen diesen einflussreichen und grundbesitzenden Familien noch ein anderes, reichsweites Beziehungsgeflecht aufgespannt: dasjenige zwischen den Schülern eines Lehrers, dem Prüfer und seinen Prüflingen sowie den Absolventen des gleichen Prüfungsjahrgangs. Über dieses Netz konnte auch ein Gentrymitglied ohne Amt — dieses Schicksal teilte die Mehrzahl der Literatenbeamten — und fern der Kaiserresidenz für sich Unterstützung mobilisieren und unter Umständen sogar das Ohr des Kaisers gewinnen. In einem Land, das über keine unabhängige Rechtssphäre verfügte, war es nützlich, wenigstens ein männliches Familienmitglied in den exklusiven Kreis der Literatenbeamten zu bringen. Dieser Angehörige konnte dank seiner Beziehungen drohende Unbill von Seiten des Staates abwehren und so den Besitzstand wahren. Der ortsfremde Präfekt war deshalb in der Regel darauf bedacht, mit der lokalen Gentry, gegen deren vornehmere Kreise er selbst nicht rechtlich vorgehen konnte — dies durften nur höhere Instanzen —, auf gutem Fuß zu stehen, wenn er seine weitere Karriere, die gerade auch von günstigen Beurteilungen seiner Amtstätigkeit abhing, nicht gefährden wollte.
 
Dank ihres hohen sozialen Prestiges, ihrer wirtschaftlichen Dominanz und ihrer Verwurzelung in der Region hatte die Gentry eine lokale Führungsrolle inne, die sie zum natürlichen Mittler zwischen den Volksmassen und dem landfremden Vorsteher machte, der oft nicht einmal den lokalen Dialekt verstand. Ohne sie konnte der Vorsteher, der über keinen ausreichenden professionellen Verwaltungsstab und auch über kein eigenes Budget verfügte — alle Einnahmen gingen an die Zentrale —, keine einigermaßen effektive Verwaltung seines Kreises realisieren.
 
Viele Rechtshändel in der Bevölkerung wurden durch Vergleiche unter dem Vorsitz der lokalen Gentry aus der Welt geschafft und belästigten nicht den ortsfremden Vorsteher, dem das lokale Gewohnheitsrecht — und das chinesische Zivilrecht war immer das lokale Gewohnheitsrecht, die Zentralregierung interessierte sich nur für das Strafrecht — fremd war. Auch für das Gemeinwohl ihres Kreises sorgte häufig die Gentry, indem sie, auch mit eigenen Mitteln, öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Tempel finanzierte; vor allem aber kümmerte sie sich um den Erhalt der Bewässerungs- und Entwässerungsanlagen wie auch des Wege- und Kanalnetzes. In Zeiten der Unruhen und des Krieges stellte sie auch Lokalmilizen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung auf.
 
Die Bauern
 
Bezahlt wurde der Lebensstil der Gentry letztlich von den Bauern, die zwar 80 Prozent der Bevölkerung stellten, aber, vor allem im Süden, der »Reisschüssel« des Reiches, gerade einmal die Hälfte der Ackerfläche besaßen. Trotz dieser ungleichen Landverteilung trugen sie beinahe die gesamte Steuerlast auf ihren Schultern. An regulären Steuern gab es die seit 1724 zu einer Einheitssteuer verschmolzenen Grund- und Kopfsteuern sowie die in Südchina erhobene Kornsteuer, die dazu diente, Peking und die dort stationierten Garnisonen zu versorgen. An sich waren diese Steuern nicht erdrückend hoch. Dafür waren es die zahlreichen halb legalen Sonderabgaben, die zur Deckung der Kosten der Steuertransporte erhoben wurden. Diese Sonderabgaben wurden nur den Bauern abgepresst, nicht aber der Gentry; das heißt, dass die kleinen Bauern für die Grundbesitzer mitzahlen mussten.
 
Am Ende entrichteten die Bauern ein Mehrfaches des regulären Steuersatzes. Die kleinen unter ihnen, und das war die Mehrzahl, konnten diese Bürde nicht lange tragen, schon gar nicht nach einer Missernte als Folge von Dürre im Norden und von Überschwemmungen im Süden. Sie waren dann gezwungen, sich bei den örtlichen Grundherren zu verschulden und mussten diesen letztlich ihre Felder zur Tilgung der Schulden überlassen. Sie arbeiteten dann als Tagelöhner oder als Pächter auf ihrem ehemaligen Besitz. Als Steuerzahler gingen sie verloren; als Pächter zahlten sie jetzt eine oft hohe Pacht von 50 Prozent oder mehr der Ernteerträge. Wegziehen und woanders neu anfangen oder gar neues Land kaufen war schon lange nicht mehr möglich, denn aufgrund des starken Bevölkerungswachstums, das sich gerade in den Zeiten der Prosperität unter Kangxi und Yongzheng enorm zu beschleunigen begann, war dieses knapp geworden. Um 1850 lebten schließlich 450 Millionen Menschen in China, gegenüber etwa 150 Millionen zu Beginn der Qingherrschaft. Die Ackerfläche aber hatte sich im gleichen Zeitraum nur verdoppelt, teilweise durch die Erschließung minderer Böden, auf denen die von den Portugiesen aus Südamerika ins Land gebrachten genügsameren Feldfrüchte wie Mais, Süßkartoffeln, Erdnüsse und Tabak angepflanzt wurden. Auch die damals beginnende Auswanderung der Küstenbewohner nach Südostasien milderte den Bevölkerungsdruck kaum.
 
Zur Not der Bauern hinzu kamen ruinierte Staatsfinanzen. Die Grundsteuer, die bei weitem wichtigste Einnahmequelle des Reiches, brachte zwischen 75 und 85 Prozent der gesamten Staatseinkünfte; der Rest fiel auf die Getreidesteuer und das Salzmonopol. Kangxi und Yongzheng hinterließen noch beträchtliche Überschüsse in der Staatskasse. Boden war zu ihrer Zeit noch reichlich vorhanden; so konnte trotz des Bevölkerungsanstiegs die Nachfrage nach Ackerland befriedigt werden. Steigende Produktion bedeutete zugleich steigende Steuereinnahmen. Unter Qianlong hingegen hielten die stagnierenden Steuereinnahmen nicht länger Schritt mit den hohen Staatsausgaben, die eine Folge seiner kostspieligen Expansionspolitik und der unter ihm immer mehr um sich greifenden Korruption waren.
 
Handel und Industrie
 
Handel und Wandel konnten diesem Notstand nicht abhelfen. Zwar war China der bei weitem größte Wirtschaftsraum seiner Zeit; doch Handel und Industrie steckten trotz der für europäische Verhältnisse riesigen Textil- und Seidenindustrie und der Porzellanmanufaktur noch in der vorkapitalistischen Phase. Der Stand der Kaufleute galt von jeher als einer der niedrigsten und war zahlreichen gesetzlichen Einschränkungen unterworfen. Über ihre Mitgliedschaft in den Berufsgilden unterstanden die Kaufleute der strengen Aufsicht und Willkür der Behörden, die nur eines im Sinn hatten: die reichen zu schröpfen. Unter den Großkaufleuten gab es kaum Konkurrenz; der Staat bevorzugte die relativ leicht zu kontrollierenden Monopole und vergab daher, gegen entsprechende Vorauszahlungen, die Vertriebsrechte an ausgesuche Kandidaten, zum Beispiel im Salzhandel oder im immer lukrativer werdenden Außenhandel.
 
Hinderlich auf dem Weg in eine eher kapitalistische Produktionsweise war nicht nur der technische Rückstand — auch in Europa begann die technische Revolution erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts —, sondern auch die zu lockeren und altmodischen Formen der Arbeitsteilung bei der Herstellung von Massengütern. So waren die verschiedenen Arbeitsprozesse bei der Produktion von Baumwolltextilien — das Entkernen, Spinnen, Färben und Weben — auf viele Produktionsstätten verteilt; die Herstellung und der Transport der halb fertigen Produkte von einem Herstellungsort zum nächsten wurde von jeweils spezialisierten Kaufleuten besorgt. Ein umfassendes Wissen über die Produktion von Textilien und über mögliche technische Verbesserungen und Rationalisierung von Arbeitsvorgängen konnte so nicht entstehen, zumal auch das unerschöpfliche Angebot an billigen Arbeitskräften, das in der zunehmenden Verelendung der Bevölkerung gründete, Rationalisierungsüberlegungen gar nicht erst aufkommen ließ.
 
Das größte Hindernis für eine Entwicklung kapitalistischer Strukturen lag aber in den Köpfen der Kaufleute selbst. Ein Standes- und Selbstbewusstsein wie das ihrer Kollegen in Europa kannten sie nicht; sie hatten nie, weder im Reich noch auf lokaler Ebene, politische Macht ausgeübt. In einer Gesellschaft, die ihr Gewerbe offiziell verachtete, neigten sie eher dazu, Mitglied der Gentry zu werden, weshalb sie ihr Vermögen auch in den immer wertvoller werdenden Grundbesitz investierten. Damit gehörten sie dem Bauernstand an und hatten demnach auch das Recht, ihre Söhne an den Examina teilnehmen zu lassen, neben dem Grundbesitz das zweite Eintrittsbillet zur Klasse der Gentry. Auf bloße Bewahrung des Erreichten zielend, fielen sie als Pioniere des Wirtschaftslebens aus.
 
 Das Geistesleben der Qingzeit
 
Der Zusammenbruch der Mingdynastie und die Eroberung Chinas durch das Fremdvolk der Mandschu zeigte keine Auswirkungen auf Kultur und Kunst der Zeit — weder auf die Staatsideologie des Neokonfuzianismus noch auf die gegenläufigen Trends des Denkens, welche gegen Ende der Ming in privaten Zirkeln propagiert worden waren und auch jetzt noch weiter diskutiert wurden.
 
Die Mandschuherrscher waren sich bewusst, dass sie als Fremde das Riesenreich nicht ohne die Mitarbeit der chinesischen Literatenbeamten, der Elite des Landes, unterwerfen und beherrschen konnten. Da deren konfuzianisches Welt- und Gesellschaftsbild autoritär gefärbt war und der Herrscher darin eine unangefochtene, absolute Stellung einnahm, fiel es ihnen nicht schwer, sich dieses Weltbild zu Eigen zu machen. Nie schien China, wenigstens an der Oberfläche, stärker konfuzianisch geprägt zu sein als unter den Mandschuherrschern, die sich gerne so gaben, als seien sie die Verkörperung des idealen konfuzianischen Herrschertyps. Als Dank dafür, dass sich die Literatenbeamten kooperationsbereit zeigten, beteiligten sie diese an der Macht. Sie sorgten auch dafür, dass die Staatsprüfungen, die jetzt im Wesentlichen den Zugang zu dieser Macht regelten, ausschließlich im Geiste des Neokonfuzianismus abgehalten wurden.
 
Literarische Großunternehmungen
 
Sie förderten die konfuzianischen Studien nicht nur durch die dem Kaiser direkt unterstellte, zeitweise 300 Gelehrte zählende Hanlin-Akademie, in die jeweils die Prüfungsbesten aufgenommen wurden; sie befahlen auch zahlreiche, oft umfangreiche und bisher nie dagewesene gelehrte Unternehmungen, bei denen auch viele stellungslose Literatenbeamte über viele Jahre hinweg ihr Auskommen finden konnten.
 
Schon zu Zeiten des Kaisers Kangxi, des Erzkonfuzianers, beeindruckte die Publikationstätigkeit. 1716 erschienen der »Zitatenschatz der kaiserlichen Studierstube«, eine nach Reimen angeordnete Konkordanz zweisilbiger Begriffe aus der klassischen chinesischen Literatur in 558 Kapiteln, und das »Kangxi Wörterbuch«, das 42000 Schriftzeichen und ihre Verwendung erklärte. Neun Jahre später wurde nach neunzehnjähriger Arbeit die bis dahin umfangreichste Enzyklopädie fertig gestellt, die »Bebilderte Sammlung der Vergangenheit und Gegenwart«, die das Wissen ihrer Zeit unter sechs Rubriken in 10000 mit Illustrationen versehenen Kapiteln darstellte. Im Jahr 1728 mit beweglichen Kupferlettern gedruckt, zählte sie insgesamt 10 Millionen Schriftzeichen. Ein weiteres Großunternehmen stellte 1703 die Herausgabe der »Sämtlichen Lieder der Tangzeit« mit 48000 Gedichten von 2200 Dichtern dar.
 
Sie alle aber wurden von einem Mammutprojekt übertroffen, an dem unter Kaiser Qianlong zwischen 1772 und 1782 360 Gelehrte und 15000 Schreiber arbeiteten: die Bestandsaufnahme des klassischen chinesischen Schrifttums in der Sammlung »Sämtliche Schriften in vier Literaturgattungen«, die in kanonische, historische, philosophische und literarische Schriften untergliedert war. Mehr als 10000 Titel aus der kaiserlichen Bibliothek, aber auch aus Provinzbibliotheken und, aufgrund einer kaiserlichen Verfügung, aus privaten Sammlungen, wurden der Bewahrung für würdig befunden und entweder für den Kaiser in Reinschrift kopiert (3400 Titel) oder wenigstens in Form einer bibliographischen Notiz in einem Katalog von 200 Kapiteln erfasst.
 
Dieses Mammutprojekt hatte aber auch seinen Preis. So wurden davon nicht nur das umfangreiche daoistische und buddhistische Schrifttum ausgenommen. Weitere 10000 andere Werke, die entweder als mandschufeindlich oder als ketzerisch gedeutet wurden, kamen auf den Index; über 2000 wurden gar vernichtet und ihre Autoren, oft auch deren Angehörige, schwer bestraft, mitunter sogar dem Henker überantwortet.
 
Nicht nur die öffentliche, auch die private Tätigkeit trug zur Sichtung und Bewahrung des Kulturerbes bei. Reiche Kaufleute, vor allem die Salzhändler aus Yangzhou, taten sich dabei als Mäzene hervor, die nicht nur eigene Sammlungen von Büchern, Malereien und Kalligraphien anlegten, sondern auch Gelehrte bei ihren zahlreichen sammelnden und kommentierenden Tätigkeiten unterstützten, die von der Inschriftenkunde bis zur Regionalgeschichte reichten.
 
Die Entschleierung des konfuzianischen Himmels
 
Dieser Hang der Literaten zum Sammeln und zum Enzyklopädischen war auch das Ergebnis einer geistigen Bewegung, die von Anfang an die staatlich geförderte Orthodoxie bekämpfte. Die Anfänge dieses kritischen Konfuzianismus lagen schon in der Mingzeit, als die Verknöcherung des Neokonfuzianismus mit seinem nach außen abgeschotteten Ideengebäude, das dazu noch der bestehenden, als ungerecht empfundenen hierarchischen konfuzianischen Ordnung die höheren Weihen verlieh, erstmals als unzulänglich empfunden wurde und zum Widerspruch herausforderte. Dieser gegen die Obrigkeit und den Neokonfuzianismus gerichtete Affekt verstärkte sich noch mit der Mandschuherrschaft, die als fremd und damit als doppelt ungerecht empfunden wurde. Anfangs gehörten Ming-Loyalisten zu dieser Schule, später vor allem Gelehrte, die keine Beamtenlaufbahn eingeschlagen hatten.
 
Des ewigen Begriffeklopfens der Neokonfuzianer müde geworden, wollten die Anhänger dieses kritischen Konfuzianismus, als dessen Begründer der Privatgelehrte Gu Yanwu (1613—82) gelten kann, zurück zu den Wurzeln des konfuzianischen Denkens; denn ihrer Ansicht nach hatte der Neokonfuzianismus durch erhebliche Anleihen bei Daoismus und Buddhismus die reine Lehre des Meisters verfälscht. Was zunächst als philologische Textkritik begann und dabei etliche kanonische Schriften der Orthodoxie, ja des Konfuzianismus überhaupt, als Schöpfungen späterer Zeit entlarvte oder deren Inhalt jeglicher konfuzianischen Deutung entkleidete und ihnen ihren ursprünglichen Sinn zurückgab, mündete schließlich in eine grundlegende Ideologiekritik, die auch vor Konfuzius selbst und seinen Ideen nicht mehr Halt machte. Diese Entschleierung des konfuzianischen Himmels ist durchaus vergleichbar mit der zeitgleich in Europa ablaufenden innertheologischen Bibelkritik, der Entschleierung des christlichen Himmels.
 
 Der Zusammenstoß mit dem Westen
 
Kaum hatten die Portugiesen das Kap der Guten Hoffnung umsegelt und in Goa an der indischen Westküste Fuß gefasst, da tauchten sie auch schon zwischen 1516 und 1518 an der Südküste Chinas auf. Für die Chinesen waren diese Abenteurer aber keine Abgesandten einer fremden Macht, denen man mit gebührendem Respekt begegnen musste, sondern Gesindel, eine ärgerliche Randerscheinung, Seeräubern irgendwoher aus Südasien oder Japan vergleichbar, die gerade im 16. Jahrhundert die Küsten Chinas belästigten. Die abweisende Reaktion des Minghofes war verständlich, denn oft genug benahmen sich die portugiesischen Seefahrer und Händler wie Piraten. Dennoch erhielten sie, wohl auf Drängen der örtlichen Behörden, ab 1535 ein Aufenthaltsrecht auf der kleinen Halbinsel Macao, von der aus sie bis 1636, dem Jahr ihrer Ausweisung aus Japan und damit auch des wirtschaftlichen Niedergangs der Niederlassung, den vom Minghof für Chinesen verbotenen und deshalb lukrativen Handel zwischen Japan und China dominierten.
 
Die Jesuitenmission
 
Schon bald war Macao aber auch das Sprungbrett der Missionierung Chinas durch den 1534 gegründeten Orden der Jesuiten. Die wohlwollende Behandlung, die der italienische Priester Matteo Ricci (1552—1619) am Minghof in Peking erfuhr, blieb auch seinen Nachfolgern am Hof erhalten, da vor allem die beiden ersten Qingkaiser Shunzhi und Kangxi ihre schützende Hand über die Jesuitenmissionare hielten. Diese gingen ihrerseits ganz im Geiste Riccis mit großer Behutsamkeit vor, mit der klaren Strategie, die in Staat und Gesellschaft tonangebende Schicht der Literatenbeamten für den christlichen Glauben zu gewinnen. Sie traten daher weniger als Priester denn als Gelehrte auf, als Mathematiker, Astronomen und Kartographen; ihren profunden Kenntnissen auf diesen Gebieten war es zu verdanken, dass von 1643 bis 1827 das so wichtige Hofamt für Astronomie in den Händen von Missionaren lag; als Erster hatte es Pater Adam Schall von Bell inne. Hierin zeigt sich die enorme Wertschätzung ihres Wissens, denn das chinesische Denken schrieb den Himmelserscheinungen große Bedeutung für das Gedeihen der Dynastie zu. Solange die Jesuiten bis zur Auflösung ihres Ordens im Jahre 1773 in der Chinamission das Sagen hatten, blieben sie unaufdringlich, kleideten sich wie die chinesischen Gelehrten, benutzten zur Darstellung des christlichen Glaubens die neokonfuzianische Terminologie und integrierten den Ahnenkult und andere konfuzianische Rituale in die christlichen Zeremonien. Auf diese Weise gelang es ihnen, einige hohe Beamte und sogar Mitglieder der Kaiserfamilie zum christlichen Glauben zu bekehren. Seit aber der Vatikan zu Beginn des 18. Jahrhunderts sich gegen den Ahnenkult und die Teilnahme der Christen an konfuzianischen Ritualen aussprach und vom Kaiserhof die Aufsicht über die Missionare einforderte — in China war die Religion immer dem Primat des Staates unterworfen —, verkümmerte das zarte Pflänzchen der Christianisierung mehr und mehr, zumal sich die gegensätzlichen Auffassungen des Vatikans und des Kaiserhofs zunehmend verhärteten. 1721 ließ dann Kangxi die meisten der Missionare ausweisen.
 
Kontakte zu Russland und Großbritannien
 
Die Jesuitenmission blieb also eine Episode in der Geschichte Chinas und Europas, wenn auch eine nicht ganz folgenlose. China profitierte von den naturwissenschaftlichen Kenntnissen Europas in der Mathematik, Astronomie und Kartographie, aber auch in der Waffentechnik (Kanonen); Europa dagegen wurde mehr auf dem Gebiet der Ästhetik — die »Chinoiserien« in der Kunst des Rokoko und in der Gartenarchitektur — und der Philosophie beeinflusst. Das positive Bild, das die Jesuiten von China zeichneten, wirkte sich nachhaltig auf die Philosophie der Aufklärung aus. Dieser bot sich das von einem aufgeklärten Despoten (Kaiser) mit Philosophen (Literatenbeamten) nach rationalen Methoden verwaltete Reich als Gegenmodell zur überlebten irrationalen Herrschaftsform des Feudalismus an. Dieser Chinaschwärmerei sollte angesichts der inneren Missstände und der äußeren Schwäche des Reiches Ende des 18. Jahrhunderts aber die Chinaverachtung folgen.
 
An dieser Entwicklung waren nicht die Russen schuld, die schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts mehr und mehr in Kontakt zu China getreten waren — zunächst in kriegerischen, dann immer mehr in friedlichen Absichten. Erste Übergriffe der nach Sibirien vordringenden Russen auf das Stammland der Mandschu am Amur blieben zunächst wegen des langwierigen Bürgerkriegs in Südchina ungestraft, wurden dann aber 1686 von Kangxi umso energischer abgewiesen. Mit dem Vertrag von Nertschinsk 1689, dessen sechs Artikel die Grenze zwischen den beiden Reichen am Amur festlegten, begann eine Periode der friedlichen Koexistenz und der diplomatischen Kontakte. 1727 wurde im Vertrag von Kiachta die Grenze in ungefähr der heutigen Linienführung erneut festgelegt; darüber hinaus wurde den Russen erlaubt, alle drei Jahre mit einer Handelskarawane von 200 Personen in China einzureisen. Ab 1728 gab es in Peking eine von China unterhaltene Schule zur Unterweisung russischer Studenten im Chinesischen und eine ständige russische Kirche. Russland war der einzige Staat, den China nicht wie sonst gemäß der Theorie des Reichs der Mitte als Tributstaat behandelte; es unterhielt mit ihm einen Gesandtschaftsverkehr und räumte ihm Privilegien ein, die andere Staaten erst 1861 erhielten.
 
Ganz anders gestalteten sich die Beziehungen zu Großbritannien, das zur See die Nachfolge der Portugiesen, Spanier und Niederländer angetreten hatte. Versuche der Engländer, den Seehandel mit China auf andere Häfen als Kanton auszuweiten, lehnte der Hof in Peking trotz der Befürwortung durch die Provinzbehörden strikt ab. Die rabiaten Methoden, mit denen sich die Kolonialländer fremdes Land in Südasien aneigneten, waren den Chinesen durchaus bekannt. Viele dieser kolonisierten Staaten standen in einem Tributverhältnis zu China, und der Seehandel mit ihnen war noch größer als der mit den westlichen Staaten. Um unnötige Konfrontationen mit den Ausländern zu vermeiden, sollten deshalb nur Handelskontakte erlaubt werden, die sich möglichst weit von der Hauptstadt entfernt abspielten und der besseren Kontrolle wegen auf einen einzigen Ort beschränkt blieben.
 
Dieser Handel lag auf der chinesischen Seite in den Händen weniger lizenzierter Kaufleute, der »cohong«, die für dieses lukrative Privileg hohe Summen an den Hof und an die Provinzbehörden zu zahlen hatten. Auf der anderen Seite des »Kanton-Systems« standen als Nutznießer des Handels vor allem die Engländer, vertreten durch die britische Ostindiengesellschaft. Allein 60 Prozent der Schiffe, die alljährlich in Kanton anlegten, kamen aus Bombay. Die Handelssaison dauerte wegen der Monsunwinde nur von Oktober bis einschließlich Januar. Die Handelsniederlassungen der Engländer, Amerikaner, Holländer, Spanier, Schweden, Dänen und Franzosen befanden sich auf der vor Kanton im Perlfluss liegenden Insel Shamian; nur dort kamen die Kaufleute in Kontakt mit den »cohong« und den für diese arbeitenden Chinesen; das Betreten von Kanton war ihnen strikt untersagt. Die Ausländer brachten hauptsächlich Wollwaren, Blei, Zinn, Eisen, Kupfer und Leinen nach Kanton und holten dafür Tee, Rohrzucker, Porzellan und Lackwaren. Die Engländer luden dazu noch Textilien, Aluminium, Pfeffer und Drogen für den indischen Markt, der seinerseits Baumwolle, Elfenbein, Silber und Opium nach China lieferte.
 
Der Opiumkrieg (1840—42)
 
Das Opium wurde schließlich zum Casus Belli, zum Kriegsgrund. Da der weitgehend autarke chinesische Markt dem europäischen und amerikanischen überlegen war, entwickelte sich ein starker Handelsüberschuss zugunsten Chinas. Diesen musste vor allem die Ostindische Gesellschaft, die allein im Jahre 1800 für 23 Millionen Pfund Tee importierte, mangels Interesse der Chinesen an anderen Waren mit barer Münze, mit Silber, bezahlen. Teilweise bestand die Ladung der Schiffe der Gesellschaft in Richtung Kanton zu 90 Prozent aus Silberbarren. Um diesem Missstand abzuhelfen, ließ die Gesellschaft in Indien mehr und mehr Opium produzieren, das dann mithilfe bestochener chinesischer Hafen- und Provinzbehörden auf den chinesischen Markt geworfen wurde. Die Folge war, dass jetzt große Mengen Silber ins Ausland abflossen und sich der chinesische Handelsüberschuss ab 1826 in ein massives Defizit verwandelte.
 
Als London 1834 das Handelsmonopol der Ostindiengesellschaft aufhob und die privaten Händler den Markt noch mehr mit dem illegalen Opium überschwemmten, ging Peking energischer gegen den Opiumschmuggel vor. Unklar bleibt, ob dafür wirtschaftliche Überlegungen ausschlaggebend waren oder die Tatsache, dass die Opiumsucht große Teile der südlichen Küstenprovinzen heimgesucht hatte — inzwischen waren gerade die hohen Gesellschaftsschichten und auch die Armee besonders davon betroffen. Der vom Hof ernannte Sonderbevollmächtige Lin Zexu ließ 1839 die Niederlassungen auf der Insel Shamian so lange von der Außenwelt abriegeln, bis der Vertreter der Krone und Sprecher der englischen Kaufleute, Charles Elliot, bereit war, das dort gelagerte Opium, immerhin 20000 Kisten, auszuliefern.
 
Doch Großbritannien schlug auf Drängen der schwer geschädigten Kaufleute zurück. Ein Expeditionskorps griff nicht nur Kanton an, sondern trug die Feindseligkeiten weiter nach Norden, in die Gegend von Shanghai, und bedrohte sogar Tianjin unweit von Peking. Nach dem Eintreffen von Verstärkungen besetzten die Engländer Amoy (Xiamen) und Ningbo und drangen auf dem Jangtsekiang tief ins Landesinnere vor, bis Nanking. Die technisch völlig unterlegenen und disziplinlosen kaiserlichen Truppen waren außerstande, das verhältnismäßig kleine englische Expeditionskorps von einigen Tausend Mann in Schach zu halten. Ein Grund dafür war vielleicht auch, dass die Regierung in Peking in der Frage des Opiumhandels und der Behandlung der Engländer keine einheitliche Linie vertrat. So musste China 1842 im Vertrag von Nanking demütigende Konzessionen machen, das heißt neben der Zahlung einer Entschädigung von 21 Millionen Silberdollar der Abtretung der Insel Hongkong, der Öffnung der Häfen von Amoy, Shanghai, Ningbo und Kanton für den Handel sowie der Abschaffung des Monopols der »cohong« zustimmen. In einem Zusatzvertrag erhielten 1843 die ausländischen Konzessionsnehmer exterritoriale Rechte und Großbritannien die Meistbegünstigungsklausel, nach der jedes einer anderen Nation verliehene Vorrecht auch von Großbritannien automatisch in Anspruch genommen werden konnte. Dies waren die ersten von den Chinesen als »ungleiche Verträge« empfundenen Abmachungen, die die Souveränität des Kaiserreiches empfindlich einschränkten.
 
Dr. Klaus Tietze, München
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
China: Die Zeit der »ungleichen Verträge«
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
China (589 bis 1644): Trennung und Fremdherrschaft
 
 
Bauer, Wolfgang: China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen in der Geistesgeschichte Chinas. München 31989.
 
The Cambridge history of China, herausgegeben von Denis Twitchett u. a. Band 10 und 11. Cambridge 1978-80.
 
Fischer-Weltgeschichte, Band 19: Franke, Herbert / Trauzettel, Rolf: Das chinesische Kaiserreich. Frankfurt am Main 69.-70. Tausend 1993.
 Fitzgerald, Charles P.: China. Von der Vorgeschichte bis zum neunzehnten Jahrhundert. Aus dem Englischen. Neuausgabe Essen 1975.
 Franke, Wolfgang: China und das Abendland. Göttingen 1962.
 Gernet, Jacques: Die chinesische Welt. Die Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Jetztzeit. Aus dem Französischen. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 21994.
 Hoffmann, Rainer: Der Untergang des konfuzianischen China. Vom Mandschureich zur Volksrepublik. Wiesbaden 1980.
 Spence, Jonathan D.: Chinas Weg in die Moderne. Aus dem Amerikanischen. München u. a. 1995.
 Spence, Jonathan D.: Ich, Kaiser von China. Ein Selbstporträt des Kangxi-Kaisers. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1985.

Universal-Lexikon. 2012.

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